Alte Keime - neue Risiken
14/1998, 12.06.1998
Zahl der Lebensmittelinfektionen durch internationale Sicherheitsstandards senken
Die Zahl der durch Lebensmittel ausgelösten Erkrankungen steigt weltweit immer noch an. Die Ursachen sind vielfältiger Natur. Sie umfassen die Anpassungsfähigkeit der Erreger, das veränderte Ernährungsverhalten, mangelndes Hygieneverständnis, den weltweiten Tourismus und die Globalisierung des Handels mit Lebensmitteln. Noch immer unterscheiden sich die Ursachen lebensmittelbedingter Erkrankungen in Industrieländern und Ländern der Dritten Welt. Während in Entwicklungsländern häufig die hygienischen Rahmenbedingungen fehlen, sind sie in den Industrienationen zwar vorhanden, wiegen den Verbraucher aber in einer Sicherheit, die ihn potentielle gesundheitliche Risiken unterschätzen läßt. Dennoch ist festzuhalten: Das Niveau der Lebensmittelsicherheit in industrialisierten Ländern ist hoch. Das sind die zentralen Ergebnisse des 4. Weltkongresses Lebensmittelinfektionen und -intoxikationen, der vom 8. bis 12. Juni 1998 in Berlin stattfand und vom Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin, BgVV, veranstaltet wurde. Zu einer Verbesserung der Situation können nach Ansicht der Experten eine vorausschauende Risikobewertung, die Festlegung international gültiger Standards für Lebensmittelsicherheit und eine verbesserte Risikoinformation unter Nutzung weltweiter Informationsnetze via Internet wesentlich beitragen.
Nach wie vor stehen Salmonellen in vielen Ländern Europas an der Spitze der Erreger von Lebensmittelinfektionen. Zwar werden die Spitzenwerte aus 1991/92 nicht mehr erreicht, doch hat sich das Infektionsgeschehen in Deutschland auf einem Niveau eingependelt, das mit rund 100.000 gemeldeten Erkrankungsfällen doppelt so hoch ist wie noch 1985. Entwarnung kann also nicht gegeben werden. Neben den Salmonellen gewinnen Erkrankungen durch Campylobacter-Keime zunehmend an Bedeutung. In einigen Ländern haben sie die Salmonellen bereits aus ihrer "Spitzenposition" verdrängt. Daneben haben enterohämorrhagische Escherichia coli (EHEC)-Keime als Verursacher schwerer Erkrankungen eine besondere Bedeutung erlangt. EHEC-Keime können durch Lebensmittel tierischen oder pflanzlichen Ursprungs übertragen werden. Die Keime werden durch ausreichendes Erhitzen abgetötet, durch bloßes Waschen lassen sie sich dagegen nicht entfernen. In Deutschland erkranken heute etwa 1-3 von 100.000 Menschen jährlich durch EHEC.
Wie Campylobacter gehören auch EHEC-Keime zu den Infektionserregern, die nach dem Bundesseuchengesetz als "übrige Formen" der lebensmittelbedingten entzündlichen Durchfallerkrankungen gemeldet werden. In Deutschland ist diese Zahl in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen und lag 1997 erstmals höher als die Zahl der Samonellosen. Ähnliche Trends sind auch in anderen modernen Industrieländern zu beobachten. Diese Zahlen sind aber nur die Spitze des Eisberges, denn gemeldet werden überwiegend Fälle aus Massenerkrankungen, die ihrerseits maximal 10 bis 20 % aller Erkrankungen ausmachen.
Die absoluten Fallzahlen sagen nur bedingt etwas über die Bedeutung durch Lebensmittel ausgelöster Erkrankungen aus. Das gilt sowohl für die Gesundheitsgefährdung als auch für die volkswirtschaftlichen Kosten. Das zeigt am besten die EHEC-Problematik. Zwar ist die Zahl der durch EHEC ausgelösten Erkrankungen im Vergleich zu Salmonellosen und Campylobacteriosen in Deutschland verschwindend gering, doch wiegen die gesundheitlichen Auswirkungen für das Individuum weitaus schwerer. Während deutlich unter fünf Prozent aller an Salmonellen Erkrankten einer stationären Behandlung bedürfen, liegt die Rate der Todesfälle und lebenslanger gesundheitlicher Beeinträchtigungen im Falle von EHEC insbesondere bei Kindern um ein vielfaches höher. Gleiches gilt für die volkswirtschaftlichen Auswirkungen, zieht man die Folgekosten, etwa im Falle einer lebenslangen Dialyse oder Nierentransplantation, neben der Akutfallbetreuung in Betracht.
Die gesamtwirtschaftlichen Kosten allein sind zwar ein wichtiger, nicht aber der bedeutendste Faktor bei der Bewertung von Risiken und ihrer Eingrenzung. An erster Stelle steht die Vermeidung einer gesundheitlichen Gefährdung. Diese setzt eine sorgfältige, vorausschauende Analyse der potentiellen Risiken, die von Lebensmitteln ausgehen können, und adäquate Gegenmaßnahmen auf verschiedenen Ebenen voraus. Sie reichen von der guten Hygienepraxis bei Erzeugung, Verarbeitung und Vertrieb bis hin zur Hygiene in Großküche und Privathaushalt. Ein multidisziplinäres Vorgehen ist unverzichtbar. Für die Gefahrenabwehr war die weltweite Einführung des Hazard Analysis and Critical Control Point-, kurz HACCP-Konzepts ein wichtiger Schritt.
Auch der Verbraucher muß verstärkt in die Pflicht genommen, grundlegende Kenntnisse über häusliche Hygiene müssen ihm besser vermittelt werden. Hauptursachen für lebensmittelbedingte Erkrankungen im häuslichen Bereich sind nach wie vor mangelnde Kühlung bei der Aufbewahrung frischer und zubereiteter Speisen, unzureichende Erhitzung um potentielle Erreger abzutöten, Kreuzkontamination und unzulängliche persönliche Hygiene.
Die Grundregeln der Hygiene gilt es insbesondere bei Reisen in Länder mit niedrigerem Standard zu beachten. Die Zahl der Touristen hat sich in den letzten 15 Jahren weltweit verdoppelt. Eine Umfrage ergab, daß 18% von 850.000 befragten Touristen während ihrer Reise an einer Magen-Darm-Infektion litten. An der Spitze der Urlaubsländer, aus denen Reisende mit Lebensmittelinfektionen zurückkommen, liegen die Dominikanische Republik, Kenia und Ägypten.
Daneben ist zweifellos der Trend zu den scheinbar "gesünderen", rohen Lebensmitteln, in Unkenntnis möglicher gesundheitlicher Gefahren, mitverantwortlich für den Anstieg der Lebensmittelinfektionen in den Industrieländern. Lebensmittel tierischen Ursprungs, wie rohe Milch oder unzureichend durchgegartes Fleisch zählen zu den Hauptrisikolebensmitteln, aber auch über pflanzliche Lebensmittel können Infektionserreger übertragen werden. Neben Krankheitserregern können mit rohen Lebensmitteln auch antibiotikaresistente Keime auf den Menschen übertragen werden und eine Behandlung im Krankheitsfall erschweren. Pflanzliche Lebensmittel können stärker mit antibiotikaresistenten Keimen belastet sein als tierische. Untersuchungen haben gezeigt, daß die Darmflora von Vegetariern mehr resistente Keime aufweist als die von Nichtvegetariern. Werden die Lebensmittel ausreichend gekocht oder durchgegart, sterben diese Keime ab, die Antibiotikaresistenz kann nicht mehr übertragen werden. Insbesondere Kleinkindern, älteren Menschen und Menschen mit geschwächtem Immunsystem muß deshalb aus Gründen des vorsorgenden Verbraucherschutzes vom Genuß roher Lebensmittel abgeraten werden.
Schließlich trägt der globale Handel dazu bei, daß die Infektionsrisiken wachsen. Der Warenaustausch findet zwischen Ländern mit unterschiedlichstem hygienischen Niveau und für diese Länder spezifischen Erregerspektren statt. EHEC-Infektionen in großem Ausmaß beispielsweise wurden erstmals in Nordamerika erkannt. Heute findet man sie weltweit. Praxisorientierte und international akzeptierte Sicherheitsstandards können negative gesundheitliche Auswirkungen des Welthandels begrenzen. Den Industrienationen obliegt es, ihr technologisches, analytisches und diagnostisches Wissen weniger entwickelten Länder zu vermitteln und an die lokalen Gegebenheiten anzupassen.