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Gruppen-Delphi

Vorgehen

Einer der gravierenden Nachteile der Delphi-Befragung ist das Fehlen von Begründungen für Urteile, die vom Median aller Teilnehmenden abweichen. Deshalb haben wir gemeinsam mit einigen anderen Autoren eine Modifikation des Verfahrens, das Gruppen-Delphi, vorgeschlagen. Die Expertinnen und Experten werden dabei nicht durch postalische Befragung und Rückkopplung miteinander verbunden, sondern werden zu einem gemeinsamen Workshop von ein bis zwei Tagen eingeladen. Wichtig ist dabei, dass die eingeladenen Expertinnen und Experten die in der Fachwelt diskutierte Bandbreite an unterschiedlichen Auffassungen und Interpretationen vertreten. Gleichzeitig sollte die Zahl der eingeladenen Expertinnen und Experten 16-20 Personen nicht übersteigen. Im Vorfeld oder spätestens zu Beginn des Workshops werden den Teilnehmenden die Aufgabenstellung und die Struktur des Fragebogens erläutert. Dann werden die Teilnehmenden in einer ersten Runde in drei bis vier Gruppen aufgeteilt. Jede dieser Kleingruppen von drei bis vier Personen erhält die gleiche Aufgabe, nämlich den erläuterten Fragebogen auszufüllen. Konsens wird dabei angestrebt, aber abweichende Voten sind möglich. Im Plenum müssen diejenigen Expertinnen und Experten, deren Bewertungen signifikant vom Mittelwert aller anderen Teilnehmenden abweichen, ihren Standpunkt eingehend vor den anderen begründen und im nichtöffentlichen Streitgespräch verteidigen. Sinn dieses Austauschs von Argumenten ist es, die knappe Zeit für die Kommunikation auf die Themen zu lenken, bei denen offensichtlich die größte Diskrepanz in den Einschätzungen auftritt. Ziel der Diskussion ist es herauszufinden, worin der Dissens begründet liegt und ob die Diskrepanzen durch Informationen und Argumente der anderen Expertinnen und Experten aufzulösen sind.

Konsens über Dissens

In einer zweiten Runde wird das Verfahren in neuen Kleingruppen wiederholt. Bei der Zusammenstellung der neuen Kleingruppen wird darauf geachtet, dass in jeder Gruppe Repräsentierende der Extremgruppen aus der ersten Runde vertreten sind (durch Permutation der Mitglieder). Die Abfolge von Einzelgruppensitzungen und Plenarsitzungen wird so lange fortgeführt, bis keine signifikanten Verschiebungen der Standpunkte mehr auftreten. Am Ende eines Gruppen-Delphis erhält man in der Regel eine wesentlich eindeutigere Verteilung der Antwortmuster. Entweder streuen die Einschätzungen der Expertinnen und Experten um einen Mittelwert oder es bilden sich mehrgipflige Verteilungen. Im ersten Falle ist ein Konsens weitgehend erzielt, im zweiten Fall kann man deutlich mehrere, von einander getrennte Positionen ausmachen (Konsens über den Dissens). In beiden Fällen liefert das Delphi ausführliche Begründungen für jede Position. Am Ende dieses Schrittes verfügt man über ein von den Expertinnen und Experten getragenes Profil vermuteter oder geschätzter Handlungsfolgen einer jeden Entscheidungsoption für bestimmte Kriterien. Die Kriterien können auch von beteiligten Parteien kommen und z.B. mittels einer vorangegangenen Wertbaumanalyse erarbeitet werden. Aufgrund der Expertendiskussionen sind auch die verbalen Begründungen für unterschiedliche Abschätzungen als zusätzliche Informationen zu den Profilen gespeichert. Nachteil des offenen Diskussionsverfahrens beim Gruppen-Delphi ist es jedoch, dass die Anonymität der Teilnehmenden nicht gewahrt bleibt. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Gruppen-Delphi haben jedoch gezeigt, dass Statusdifferenzen wenig Einfluss auf das Gruppenurteil haben, sofern die Unterschiede im Status nicht dramatisch sind.

Leitbild: Erkenntnisdiskurs

Der Prozess des Gruppen-Delphis steht unter dem Zeichen der Einigung oder Nicht-Einigung über kognitive Aussagen. Leitbild ist der auf methodischen Regeln aufbauende Erkenntnisdiskurs mit dem Ziel, scheinbare Dissense zu identifizieren und diese in Konsense aufzulösen sowie echte Dissense auf gemeinsam akzeptierte Begründungslogiken zurückzuführen und damit einen Konsens über den Dissens zu schaffen.

Exklusivität

Ein solcher Diskurs lebt von seiner Exklusivität. Sobald fachfremde Personen oder Vertretende von Interessengruppen aktiv an diesem Diskurs mitwirken, bricht in der Regel der Zwang zur methodischen Begründung von Aussagen zusammen.

Beobachter

Es kommt in der überwiegenden Zahl der Fälle zu strategischen Verhaltensmustern in der Debatte, häufig endet die Diskussion in gegenseitigen Beschuldigungen, vor allem dann, wenn die Expertinnen und Experten selbst in ihren Meinungen polarisiert sind. Allenfalls können Beobachter ohne Rede und Stimmrechte an den Beratungen teilnehmen. Ebenso ist eine Aufzeichnung der Diskussion mit einer Videokamera möglich und zur Dokumentation des Diskussionsverlaufs auch sinnvoll. Zwar ist die Exklusivität keine Garantie für das Gelingen eines methodisch geführten Erkenntnisdiskurses, aber zumindest eine notwendige Bedingung. Aus diesem Grunde ist es auch wichtig, die Fragen an die Expertinnen und Experten auf entscheidungsrelevante Wissensbestände zu beschränken.
Viele Expertinnen und Experten neigen dazu, auf der Basis ihres Wissens gleich die politischen Schlussfolgerungen mitzuliefern. Eine wesentliche Aufgabe der Moderation eines Gruppen-Delphis ist es deshalb, eine Überschreitung der Grenzen des kollektiv eingebrachten Wissens zu verhindern und im Bereich des begründbaren Wissen der Teilnehmenden zu verbleiben. Nur so lässt sich im übrigen auch der enge Zeitrahmen von ein bis zwei Tagen einhalten.